Interview mit Prof. Dr. Dörte Weltzien: Über Interaktionen konstruieren Kinder ihre Vorstellungen von der Welt

 

Interview mit Prof. Dr. Dörte Weltzien zum Thema „Interaktion zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern“

 

 

Frau Prof. Dr. Dörte Weltzien lehrt und forscht seit 2006 an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Sie ist Professorin für Pädagogik der Kindheit und leitet den Masterstudiengang „Bildung und Erziehung im Kindesalter“ sowie gemeinsam mit Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff das „Zentrum für Kinder- und Jugendforschung“ (ZfKJ).

 

Forschungsschwerpunkte sind u.a. die Gestaltung von Interaktions- und Bildungsprozessen, die Evaluation frühpädagogischer Programme sowie Lebensqualität, Soziale Ungleichheit und Netzwerke.

 

Die Interaktion und ihre Gestaltung im pädagogischen Kontext stehen in jüngster Zeit (wieder) im Fokus fachlicher Auseinandersetzungen. Zu Recht?

 

Davon bin ich überzeugt. In den letzten Jahren ist diese pädagogische Kernaufgabe - die Gestaltung beziehungsförderlicher Interaktionen – angesichts der vielen Bildungsprojekte und Sprachförderprogramme etwas aus dem Blick geraten. Natürlich sind Räume und Materialien und auch didaktische Lern- und Förderangebote nach wie vor wichtige Themenfelder in der Kita. Aber im Zentrum stehen die Beziehungen zu Fachkräften und die Gruppenatmosphären, in denen sich Peerbeziehungen entwickeln können. Hierzu tragen die pädagogischen Fachkräfte durch ihr Interaktionsverhalten bei. Unabhängig von allen Bildungsangeboten in der Kita: Die einzelne Fachkraft stellt allein über ihre Beziehungsangebote eine wichtige Ressource für Kinder dar. Daher macht es viel Sinn, sich fachlich mit der Gestaltung von Interaktionen auseinanderzusetzen.

 

 

Internationale Studien weisen darauf hin, dass die Fachkraft-Kind(er)-Interaktion für die Qualität der Betreuung in Kindertageseinrichtungen eine zentrale Bedeutung hat (vgl. König 2007). Welche Merkmale prägen eine qualitativ hochwertige Interaktion?

 

Im Grunde genommen sind es die gleichen Merkmale, die generell für ´gute´ Interaktionen (im Hinblick von tragfähige, verlässliche Beziehungen) gelten: Echtheit (Kongruenz) des eigenen Verhaltens, Akzeptanz von Vielfalt, Wertschätzung für die Interaktionspartner, Empathie für die Verhaltensäußerungen der anderen. Diese von Carl Rogers formulierten Aspekte einer personzentrierten Gesprächsführung werden seit langem in psychotherapeutischen und sozialpädagogischen Settings als zentrale Merkmale von sinnstiftenden und entwicklungsförderlichen Interaktionen angesehen. Im Kita-Bereich wird dies für den Bindungsaufbau insbesondere im Krippenbereich deutlich formuliert, aber diese Aspekte gelten für alle Altersstufen. Auch ältere Kinder brauchen unbedingt gute Beziehungserfahrungen zu Erwachsenen, um sich wohl zu fühlen und von den Möglichkeiten in der Kita zu profitieren. Auch das Spiel mit anderen Kindern und die Rolle in der Gruppe werden – dies ist empirisch nachweisbar - davon bestimmt, wie gut die Fachkraft-Kind-Interaktionen gestaltet sind.

 

 

Untersuchungen zur Interaktionspraxis zwischen Fachkraft und Kind haben ergeben, dass in Kindertageseinrichtungen zu wenig gesprochen wird und dass Gespräche nicht ausreichend dazu genutzt werden, um die Bildungsprozesse der Kinder zu begleiten (vgl. Weltzien 2013). Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

 

Fachkräfte sollten Gesprächen mit Kindern eine hohe Priorität im pädagogischen Alltag geben und darauf vorbereitet sein. Eigentlich ist der Kita-Alltag voller guter Gesprächsanlässe, die sich spontan in der Gruppensituation oder in Handlungsroutinen – zum Beispiel beim Aufräumen oder Mittagessen – ergeben können. Vorbereitung meint damit weniger eine konkrete Planung von Ort und Zeit, sondern eine innere Vorbereitung auf das, was von den Kindern gesagt wird und wie es gesagt wird, um zuzuhören und feinfühlig darauf einzugehen. Wichtige Themen – zum Beispiel aus den familiären Lebenswelten der Kinder – können bei Kindern nicht warten, bis sie ´dran´ sind. Wenn sich einmal eine Kultur des Gesprächs mit Kindern in einer Kita eingestellt hat, wird es auch für zurückhaltende Kinder leichter, sich zu beteiligen und an den positiven Erfahrungen teilzuhaben. Leider gehen Gespräche im Alltag immer wieder unter, obwohl sich die Teams fest vornehmen, ihnen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Hier hilft nach unserer Erfahrung eine feste Teamvereinbarung: Eine Fachkraft, die in einem intensiven Gespräch mit einem oder mehreren Kindern ist, sollte möglichst von den Kolleginnen und Kollegen nicht gestört werden. Andere Dinge können warten oder werden vom Team kurzfristig übernommen. Eine solche Vereinbarung sorgt häufig für größere Gelassenheit und Ruhe in den Gruppen – also ganz wichtige Voraussetzungen für Gespräche mit Kindern.

 

 

Beinahe alle Fachkräfte sind davon überzeugt, eine förderliche Sprachkultur im Alltag zu leben (vgl. Viernickel et. al. 2013). Worin besteht Ihrer Meinung nach der Unterschied zwischen alltäglichen und alltagsintegrierten Gesprächen?

 

Ich glaube, der wesentliche Unterschied ist die Bedeutung, die den Gesprächen beigemessen wird. Wenn ein Kind von einer Schnecke berichtet, die es auf dem Weg in die Kita gesehen hat, ist dies für uns Erwachsene möglicherweise nicht so bedeutsam. Für das Kind ist es aber etwas Wichtiges, Aufregendes oder Seltsames und es hat das Bedürfnis, sich anderen darüber mitzuteilen. Dieses biologisch angelegte Mitteilungsbedürfnis – verbal oder nonverbal - ist übrigens etwas, was die Menschen grundlegend von Tieren unterscheidet. Über Interaktionen konstruieren Kinder ihre Vorstellungen von der Welt, von anderen und von sich selbst. Allerdings müssen solche Gespräche für die Kinder sinnstiftend sein. Nur, wenn ihre Mitteilungen auch wahrgenommen und beantwortet (im Sinne von Responsivität) werden, machen Kinder positive Interaktionserfahrungen. Wenn Gespräche immer nur dann zum Tragen kommen, wenn es Streit oder Konflikte gibt, werden die Kinder eher vermeidendes Verhalten zeigen oder einsilbig werden. Sprache ist wichtig in der Gestaltung von Interaktionen, aber es geht vor allem um die innere Sprache, also den Sinngehalt der Worte, die gewechselt werden. Hierfür braucht es Zeit und Ruhe, gerade dann, wenn die Kinder noch am Anfang ihres Spracherwerbs stehen oder mit mehreren Sprachen aufwachsen. Sprachförderung besteht zum großen Teil auch aus der Fähigkeit und Bereitschaft, zuzuhören und sich Zeit zu nehmen. Dies geht in dem häufig überkomplexen und herausfordernden Alltag leicht unter. Dabei muss allerdings auch auf die gegenwärtigen Rahmenbedingungen – Fachkraft-Kind-Schlüssel und Gruppengröße – hingewiesen werden, die alles andere als gesprächsförderlich sind.

 

 

Warum ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Interaktionsverhalten bedeutsam?

 

Jeder Mensch hat eine eigene Kommunikationsbiographie. In jeder Kultur, in jeder Familie gibt es andere Interaktionsmuster. Wir glauben zwar, dass unser Verhalten offen, zugewandt und für andere eindeutig ist, aber so wirken wir vielleicht gar nicht auf andere. Außerdem ist das Interaktionsverhalten stark kontext- und settingabhängig. Dieses in den Blick zu nehmen – zum Beispiel über die Videographie – lohnt sich, weil es gerade bei Gesprächen mit Kindern sehr stark darauf ankommt, wie man wahrgenommen und erlebt wird. Dabei geht es allerdings nicht um ein Gesprächstraining oder gar eine Standardisierung von Gesprächen, sondern es geht im Grunde genommen darum, einen verstehenden Zugang zu dem eigenen Verhalten und dem wechselseitigen Verhalten mit unseren Gesprächspartnern zu bekommen. So können wir in Videosequenzen sehr gut beobachten, ob eine Gesprächssituation andere Kinder aus der Gruppe (wir nennen sie „Zaungäste“) anzieht, weil sie an der intensiven, entspannten, fröhlichen oder auch aufregenden Atmosphäre teilhaben wollen. Solche Erfolgsfaktoren können genau analysiert werden und sind in gewisser Weise auf neue Situationen übertragbar.

 

 

Wie kann solch eine Auseinandersetzung gelingen?

 

Ganz wichtig ist ein stärkenorientierter Blick auf das eigene Verhalten und das Verhalten der Kolleginnen und Kollegen. Niemand kann zu Gesprächen gezwungen werden und auch eine gemeinsame Betrachtung von videographierten Interaktionen zwischen Fachkräften und Kindern im Gruppenalltag muss auf einer großen Vertrauensbasis begründet sein. In der Videoanalyse geht es zunächst darum, Gelegenheiten zur Interaktion zu entdecken. Im zweiten Schritt werden die verschiedenen Wahrnehmungen im Team ausgetauscht (wer hat welches Verhalten beobachtet, wie wird es gedeutet?). Eine solche offene Auseinandersetzung zeigt meist, wie komplex ganz alltägliche Interaktionen sind, aber auch, welche vielfältigen Potentiale darin liegen. Unsere ´Lieblingsszenen´ sind häufig von Überraschungen geprägt: Wenn unerwartete Themen aufkommen, gemeinsame Erfahrungen oder Vorlieben entdeckt, Rätsel oder Witze ausgetauscht oder Missverständnisse aufgeklärt werden, kommt es häufig zu ganz intensiven Interaktionsmomenten, an die sich die Beteiligten oft noch lange zurückerinnern. Dann löst sich das Kompetenzgefälle zwischen den Interaktionspartnern nämlich für eine kurze Zeit auf, und die wechselseitige Bezugnahme steht im Vordergrund. Wenn es gelingt, sich auf einer wertschätzenden Basis ganz intensiv mit solchen Gesprächen (mit und ohne Worte) im Team zu beschäftigen, ist die wichtigste Voraussetzung schon erfüllt: Den Interaktionen im Kita-Alltag eine hohe Bedeutung zu geben und die Gelegenheiten zum Gespräch zu erkennen.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

Literatur:

König, Anke (2007): Dialogisch-entwickelnde Interaktionsprozesse als Ausgangspunkt für die Bildungsarbeit im Kindergarten. In: Carle, Ursula & Wenzel, Diana (Hrsg.): Bildungsforschung. Schwerpunkt „Frühes Lernen“. Jg. 4, Nr. 1.
Weltzien, Dörte (2013): Erfassung von Interaktionsgelegenheiten im Alltag – erste Ergebnisse der Entwicklung und Überprüfung des Beobachtungsverfahrens GInA. In: Fröhlich-Gildhoff, Klaus et. al. (Hrsg.): Forschung in der Frühpädagogik VI. Schwerpunkt: Interaktion zwischen Fachkräften und Kindern. Freiburg i.B.: FEL. S. 62.
Viernickel, Susanne et. al. (2013): Forschungsbericht: Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung. Bildungsaufgaben, Zeitkontingente und strukturelle Rahmenbedingungen in Kindertageseinrichtungen. Berlin. S. 125.

 

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