
Dr. Claudia Wirts ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Förderpädagogik der Universität Leipzig und am Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz (ifp) in Bayern. Sie arbeitete außerdem als Sprachtherapeutin und Sonderpädagogin in der Frühförderung und in einer integrativen Kita.
Was verstehen Sie unter Inklusion?
Inklusion ist zunächst mal eine Frage der Haltung, dass ich wahrnehme, dass eigentlich alle Menschen unterschiedlich sind und gleichzeitig alle Gemeinsamkeiten haben – jedes Kind braucht Fürsorge und Liebe und jedes Kind will Autonomie im Rahmen seiner Möglichkeiten erreichen.
Schauen Sie sich eine übliche Kita-Gruppe an, Sie finden dort Kinder mit ganz verschiedenen Fähigkeiten: Ein Kind rennt sehr schnell, ein anderes braucht viel Ruhe, das dritte spricht nicht gern in großen Gruppen. Unterschiede als menschliche Normalität zu betrachten und nicht zu sagen, unsere Kita nimmt nur Kinder auf, die „ein bisschen“ langsamer sind, aber nicht die, die aufgrund einer Behinderung vielleicht „viel langsamer“ sind – wo zieht man da die Grenze? Ziel von Inklusion ist es, dass ALLE Kinder die gleichen Chancen bekommen und die Gesellschaft versucht, Barrieren abzubauen, damit alle Kinder teilhaben können – auch in der Kita.
Und was ist mit Barrieren im Kita-Kontext gemeint?
Erstmal denken da sicher alle an Rampen für Rollstühle und vielleicht noch Braille-Schrift für Blinde, aber Barrierefreiheit umfasst eigentlich viel mehr. Denken Sie zum Beispiel an ein Kind, das eine konditionelle Einschränkung hat, z. B. aufgrund einer schwerwiegenden Herzerkrankung. Da muss bei der Ausflugsplanung mitgedacht werden, dass anstrengende Laufstrecken für dieses Kind evtl. nicht möglich sind und die Wege und ggf. eine alternative Beförderung entsprechend geplant werden müssen. Aber auch die Alltagsorganisation in der Kita kann Barrieren schaffen oder abbauen. Ist der Morgenkreis in voller Länge für alle Kinder Pflicht, ist vielleicht ein Kind im Autismus-Spektrum damit überfordert, darf es sich aber nach 10 Minuten zurückziehen, kann das gut klappen. Barrieren sind, wie diese Beispiele zeigen, ganz häufig nicht bauliche Barrieren, an die die meisten Menschen zuerst denken.
Welche Barrieren gibt es Kontext von Sprache?
Im Bereich der Sprache und Kommunikation können Barrieren an sehr unterschiedlichen Stellen entstehen. Eine blinde Mutter kann z. B. ihr Kind nur schwer in der Kita anmelden, wenn die (Anmelde-)Homepage nicht barrierefrei ist (da ist die nicht per Screenreader vorlesbare Schriftsprache die Barriere). Ein Kind mit einer Zerebralparese kann vielleicht nur schwer verständlich sprechen und nutzt unterstützte Kommunikation (Symbolsysteme, Talker), wenn diese Hilfsmittel nicht verfügbar sind in der Kita, ist das eine riesige Barriere für seine Teilhabe. Oder ein Kind im Autismus-Spektrum braucht sehr klare Kommunikation zu Alltagssituationen und ist angewiesen auf eine Visualisierung des Tagesablaufs, nur mal kurz im Morgenkreis den Tagesablauf ansprechen oder sogar spontanes Umdisponieren kann für dieses Kind ein echtes Problem sein. Ein anderes Kind wächst mit nicht-deutscher Familiensprache auf und braucht am Anfang viel Unterstützung durch Gesten und Bilder, die deutsche Sprache ist hier die Barriere, auf Spanisch hätte das Kind kein Problem mit dem Sprachverständnis. Die Liste ließe sich noch unendlich weiterführen, es lohnt sich also in jedem Fall, sich als Kita-Team Gedanken über Barrierenabbau im Bereich der Sprache und Kommunikation zu machen.
Wie kann man in der Kita Barrieren im Bereich der Sprache und Kommunikation abbauen?
Ist das der sprachliche Ausdruck oder das Sprachverstehen eingeschränkt, z. B. durch Hörbeeinträchtigungen, Sprachentwicklungsstörungen, oder auch geringer Erfahrung mit der deutschen Sprache, bieten sich verschiedene Maßnahmen zum Barrierenabbau in der Kita an. Zunächst sollte möglichst viel visualisiert werden, um neben dem auditiven Kanal auch noch visuelle Informationen nutzen zu können. Das können z. B. Wochenpläne oder Essenspläne mit Fotos oder Bildern sein, die für alle Kinder hilfreich sind, aber für Kinder mit sprachlichem Unterstützungsbedarf zusätzlich die Chance bieten, diese als Kommunikationshilfe zu nutzen, indem sie darauf deuten. Alltägliche Routinen können über Ablaufpläne Schritt für Schritt dargestellt werden (z. B. Abläufe beim Händewaschen, Anziehen, …), auch Kommunikationssets mit spezifischem Symbolwortschatz für das jeweilige Setting (Bad, Rollenspielecke, Essplatz, Garderobe, Garten) sind für Kinder mit (noch) geringem Wortschatz eine gute Kommunikationshilfe.
Nutzt ein Kind eine elektronische Kommunikationshilfe oder ein Symbolsystem zur Kommunikation, ist es wichtig, dass dieses immer verfügbar ist und auch in der Kita eingesetzt wird. Die Pädagog*innen sollten z. B. im Morgenkreis darauf achten, dass das unterstützt kommunizierende Kind genug Zeit bekommt, um sich einzubringen, das dauert mit Hilfsmitteln in der Regel einfach länger. Wichtig ist dabei auch immer der Austausch mit den Eltern oder der Sprachtherapeut*in des Kindes, wie die Kommunikation im Kita-Alltag gut unterstützt werden kann. Übrigens besteht kein Risiko, dass ein Kind keine Lautsprache lernt, weil es Hilfsmittel oder Gebärden nutzt, dazu gibt es inzwischen ausreichend Forschung. Es ist sogar so, dass Hilfsmittel und Gebärden das Sprachlernen unterstützen.
Und wo finden Kita-Teams Unterstützung beim Abbau von Barrieren?
Unterstützung zu suchen und gute Netzwerke zu haben ist eine wichtige Voraussetzung für gelingende Inklusion, denn natürlich kann nicht in jeder Kita eine Spezialistin für Unterstützte Kommunikation, Hörbeeinträchtigungen und vieles mehr sitzen – aber fachliche Expertise im Team, z. B. durch eine Heilpädagogin, unterstützt aus meiner Erfahrung die inklusive Pädagogik der gesamten Einrichtung am nachhaltigsten. Zusätzlich zur Expertise im Team gibt es zahlreiche externe Unterstützungssysteme, die man aber erstmal kennen und finden muss. Daher habe ich mit meinem Team an der Uni Leipzig die „Netzwerkkarte Inklusion“ für Sachsen entwickelt, mit der Fachkräfte und Eltern gezielt nach spezieller Unterstützung in der Region suchen können. Und um sich eine allgemeine Wissensgrundlage zu bestimmten Themenbereichen zu verschaffen und sich Ideen zum Barrierenabbau in speziellen Entwicklungsbereichen zu holen, haben wir am Staatsinstitut für Frühpädagogik in Bayern außerdem ein Informationsportal aufgebaut, das „Raum für Inklusion – Barrierefreiheit in der Kita!“ heißt und viele Tipps, Materialien und weiterführende Links zu diesem Thema enthält.
Netzwerkkarte Inklusion Sachsen: https://netzwerkkarte-inklusion.de
Raum für Inklusion: https://link.kita.bayern/inklusionsraum
Wir bedanken uns ganz herzlich bei Dr. Claudia Wirts für die wertvollen Einblicke und Empfehlungen rund um das Thema Inklusion.