Newsletter 02/2020: Interview mit Prof.'in Dr. Susanne Viernickel zum Thema Wohlbefinden in der Kita

Prof.in Dr.in Susanne Viernickel ist Pädagogin (Dipl.) und Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit - seit 2017 an der Universität Leipzig und von 2007 bis 2017 an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. In Ihrer Forschung beschäftigt sie sich unter anderem mit pädagogischer Qualität und Qualitätsentwicklung in Kitas sowie mit der Professionalisierung von frühpädagogischen Fachkräften. Ein weiterer Schwerpunkt ist das Wohlbefinden von Kindern in Kitas, worüber wir im folgenden Interview viele interessante Einblicke bekommen haben, die wir mit Ihnen teilen möchten:

 

1. Was verstehen Sie unter kindlichem Wohlbefinden?

 

Eine einheitliche, konkrete Definition von „Wohlbefinden“ gibt es nicht. Im Alltagssprachgebrauch wird „sich wohlfühlen“ oder „Wohlbefinden“ gleichwertig zu den Formulierungen „glücklich sein“ oder „Zufriedenheit“ verwendet.

 

In der erziehungswissenschaftlichen und soziologischen Kindheitsforschung nutzt man Indikatoren zu kindlichen Lebensbedingungen und Erfahrungen in Familie, Schule oder Wohnumfeld, um sich an das Wohlbefinden von Kindern anzunähern. So werden in internationalen Berichten, wie zum Beispiel dem UNICEF-Report zum Wohlbefinden von Kindern in wohlhabenden Ländern, Merkmale aus den Bereichen Materielles, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Risiken, Beziehungen sowie Wohnen/Umwelt herangezogen. Dabei werden sowohl subjektive Erfahrungen als auch objektive Daten berücksichtigt. Man zieht etwa aus der Verfügbarkeit von Kita-Betreuung in einem Land, der finanziellen Situation der Familie, der häuslichen Wohnsituation oder der erlebten Einbindung in einen Freundeskreis Rückschlüsse auf das kindliche Wohlbefinden. In den letzten Jahren setzt sich allerdings mehr und mehr die Überzeugung durch, dass es nicht gelingen kann, eine für alle Kinder gültige objektive Definition von Wohlbefinden zu finden, und dass Kinder selber gehört werden müssen, um zu erfahren, was diese für besonders wichtig erachten und um zu gültigen Aussagen über ihr Wohlbefinden zu gelangen.

 

 

 

2. Wie kann man das Wohlbefinden von Kindern einschätzen?

 

Gerade bei sehr jungen Kindern ist es gar nicht so einfach, das Wohlbefinden einzuschätzen, auch weil sie sich sprachlich noch nicht explizit mitteilen können. Kinder können oftmals auch nicht eigenständig Situationen steuern oder sie ändern, wenn sie es wünschen. Sie brauchen aufmerksame Erwachsene an ihrer Seite, die ihre Bedürfnisse erkennen und entsprechend darauf reagieren. Im pädagogischen Alltag kann über den kindlichen Gesichtsausdruck, die Körperhaltung und das Verhalten auf aktuelles Wohlbefinden geschlossen werden. Merkmale für ein hohes Wohlbefinden wären, dass das Kind einen entspannten und gleichzeitig vitalen Eindruck macht; dass es die Aktivitäten, in die es involviert ist, konzentriert und ausdauernd verfolgt und sie offensichtlich genießt; dass es seine Bedürfnisse und Anliegen offen ausdrückt und in positive soziale Interaktionen eingebunden ist. Natürlich gehört auch dazu, dass körperliche Bedürfnisse erfüllt sind und keine stärkeren Unlustgefühle aufgrund von Hunger, Durst, starker Bewegungseinschränkung oder Müdigkeit aufkommen.

 

 

 

3. Wie wirkt sich das Wohlbefinden auf das kindliche Lernen aus?

 

In unserem Forschungsprojekt, das auf Kinder im Alter von ein und zwei Jahren fokussiert, ziehen wir vier Dimensionen zur Erfassung kindlichen Wohlbefindens in Kindertageseinrichtungen heran: das emotionale Ausdrucksverhalten, die Einbindung des Kindes in soziale Interaktionen und Gruppenprozesse, das Erleben von emotionaler Sicherheit in den Beziehungen zu den Fachkräften und den anderen Kindern sowie die Aktivierung von Bildungspotenzialen. Für den letztgenannten Aspekt schätzen wir ein, wie stark involviert ein Kind in die Exploration, in körperliche Aktivitäten oder in den sozialen Austausch ist, ob es intensive Wahrnehmungserfahrungen macht, kreative Strategien nutzt, um Ideen umzusetzen oder Lösungen zu finden und dabei beharrlich bleibt, und ob Imitation und Symbolbildung zu beobachten ist. Dies alles sind Prozesse, die für das Lernen eine zentrale Rolle spielen.

 

Weiter ist bekannt, dass Lernen in der frühen Kindheit ein grundlegend sozialer Prozess ist. [...] Kulturelle und soziale Erfahrungen prägen, was Kinder lernen, wie sich ihre Wahrnehmung ausdifferenziert und wie sie Gelerntes miteinander und mit emotionalen Reaktionen verknüpfen. Die Qualität der sozialen Beziehungen beeinflusst auch die Bereitschaft von Kindern, sich auf Neues einzulassen und diese Erfahrungen miteinander zu teilen, und das Selbstvertrauen, eigene Ziele auch wirklich erreichen zu können.

 

Wir sind davon überzeugt, dass sich all diese Aspekte kindlichen Wohlbefindens in ihrem Zusammenspiel förderlich auf kindliche Lernprozesse auswirken. Umgekehrt werden Kinder, die ein geringes Wohlbefinden aufweisen, kaum von pädagogischen Aktivitäten und Angeboten profitieren können, seien sie auch noch so gut didaktisch-methodisch aufbereitet. Das gilt selbstverständlich auch für die Sprachentwicklung. Daher ist für uns die Gewährleistung individuellen kindlichen Wohlbefindens ein aussagekräftiger Indikator für die pädagogische Qualität einer Kindertageseinrichtung oder Kindertagespflegestelle.

 

 

 

4. Wie können pädagogische Fachkräfte Bedingungen schaffen, damit Kinder sich in der Kita wohl fühlen?

 

Hebt man die oben beschriebenen, beobachtbaren Merkmale kindlichen Wohlbefindens auf eine etwas abstraktere Ebene, gelangt man zu drei Aspekten, die häufig in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben werden und die eine Orientierung für die Gestaltung des pädagogischen Alltags geben können: „Selbstwertgefühl“, „Handlungskontrolle“ und „Beziehungssicherheit“. Pädagogische Fachkräfte können das Selbstwertgefühl von Kindern stärken, indem sie Kindern spiegeln, dass sie in ihren Äußerungen und Handlungen grundsätzlich respektiert werden, auf ihre Gefühlsäußerungen verständnisvoll eingehen und helfen, starke Gefühle zu regulieren, und sie dabei unterstützen, auch in der Kindergruppe als Spielpartner/-in anerkannt zu werden. Handlungskontrolle erleben Kinder, wenn sie sich Räume eigenständig „erobern“ und eigene Spielideen verfolgen können; ebenso, wenn sie Entscheidungen über Angelegenheiten treffen können, die für sie wichtig sind bzw. sich an Aushandlungen darüber ernsthaft beteiligen können. Das können so einfache Dinge sein wie die Frage, neben wem man heute am Tisch sitzen möchte, oder ob ein Bauwerk über Nacht auf dem Bauteppich stehenbleiben darf, damit am nächsten Tag direkt weiter gebaut werden kann. Der große Begriff der Partizipation füllt sich also nicht erst mit Leben, wenn das Kinderparlament tagt, sondern tagtäglich in vielen Interaktionen und Handlungsabläufen.

 

Dass positiv emotional geprägte, Sicherheit gebende Beziehungen ein wichtiges Fundament für kindliches Wohlbefinden sind, darf in der Fachpraxis als bekannt vorausgesetzt werden. Und doch ist die professionelle Beziehungsgestaltung beileibe keine banale Angelegenheit, da hier immer persönliche und professionelle Anteile eine Rolle spielen, reflektiert und austariert werden müssen. Verlässlichkeit, Gelassenheit, Einfühlungsvermögen, Humor und die Fähigkeit zur Selbstreflexion sind wichtige persönlichkeitsseitige Voraussetzungen, auf deren Basis Beziehungen entstehen können, die von Vertrauen und wechselseitiger Sympathie geprägt sind.

 

Schließlich tragen vor allem für die Jüngsten angemessen gestaltete, als angenehm empfundene Pflege-, Ernährungs- und Schlafsituationen in den pädagogischen Einrichtungen ebenfalls maßgeblich zum subjektiven Wohlbefinden bei.

 

 

 

Literatur:

Viernickel, S., Dreyer, R., Stammer, K., Vestring, L., Wieland, U. & Wiens, E. (2018). Stimulation oder Stress? Wohlbefinden von Kindern im zweiten und dritten Lebensjahr in Kindertageseinrichtungen. Berlin: IFAF. (Diese Broschüre steht hier zum Download bereit)

UNICEF Office of Research (2013). Child Well-being in Rich Countries: A comparative overview. Innocenti Report Card 11, UNICEF Office of Research, Florence.

Fattore, T., Mason, J. & Watson, E. (2012). Locating the Child Centrally as Subject in Research: Towards a Child Interpretation of Well-Being. Child Indicators Research, 5(3), S. 423-435.